Description
SPIEGEL: Der Krieg in Gaza geht in die sechste Woche. Wie kommen die israelischen Truppen voran?Krieg: Am Boden haben sie ziemlich gute Fortschritte gemacht. Mehr als viele Beobachter erwartet haben. Bei der Einkesselung von Gaza-Stadt kamen sie sehr schnell voran. Es gab nicht viel Widerstand. Und von der Küste aus sind sie weiter in die Stadt vorgedrungen.
SPIEGEL: Erwarten sie mehr Widerstand?
Krieg: Ich würde sagen, dass sie sich bis jetzt nicht in den Gebieten befinden, in denen ich die schwersten Kämpfe erwarten würde: in der Nähe des Zentrums und in den Flüchtlingslagern. Aber es gibt ohnehin zwei verschiedene Schlachtfelder: Das eine ist oberirdisch, das andere unterirdisch. Es wird im Untergrund weitaus schwieriger.
SPIEGEL: Wie sieht das Vorgehen in den Tunneln aus?
Krieg: Bisher sind die Israelis nur sehr sporadisch in die Tunnel eingedrungen. Und die Tatsache, dass sie keine der Geiseln mit Gewalt befreit haben, deutet darauf hin, dass sie wahrscheinlich nicht sehr tief in die Tunnelsysteme eingedrungen sind.
SPIEGEL: Was hält die israelischen Truppen davon ab?
Krieg: Ein israelischer Kommandeur sagte mir, dass sie sich auf einen sehr langen Krieg vorbereiten. Ich denke, sie werden sich oberirdisch Häuserblock für Häuserblock vorankämpfen und dann Eingänge und Ausgänge von Tunneln identifizieren. Und dann denke ich, dass die nächste Phase der Operation darin bestehen wird, in einige der Tunnel einzudringen.
SPIEGEL: Was eine sehr verlustreiche Operation werden könnte.
Krieg: Sie wissen über den Untergrund des al-Shifa-Krankenhauses Bescheid, weil die Tunnel des al-Shifa-Krankenhauses von Israel in den 1980er Jahren selbst gebaut wurden, als der Gazastreifen noch von Israel verwaltet wurde. Sie gehen also davon aus, dass diese Tunnel jetzt von der Hamas benutzt werden. Ansonsten hat Israel hat nur begrenzte Informationen über das Tunnelsystem. Selbst Behauptungen über Kommandozentralen, Tunneleingänge und Bunker sind oft Spekulation.
SPIEGEL: Auch deswegen scheint ein Gefangenenaustausch derzeit nicht unwahrscheinlich.
Krieg: Es gab in den vergangenen Tagen bei den Verhandlungen in Katar einige Fortschritte. Bis zum Ende der Woche könnte ein größerer Deal zustande kommen. Die Israelis scheinen viel mehr zu Zugeständnissen bereit als noch vor ein paar Wochen. Was darauf hindeutet, dass sie mittlerweile glauben, dass es keine militärische Möglichkeit gibt, die Geiseln zu befreien. Und dass nicht alle Geiseln an einem Ort festgehalten werden. Und es bedeutet auch, dass sie nicht wirklich vorhaben, komplett in die Tunnel vorzudringen.
SPIEGEL: Was könnten sie stattdessen tun?
Krieg: Sie können versuchen, einige von ihnen zu sprengen. Bei den tiefliegenden Tunneln wird das aber schwierig. Die Taktik könnte darin bestehen, ein Gebiet einzunehmen und dann die Tunnel zu belagern. Den Hamas-Kämpfern nicht Chance geben, herauszukommen. In den vergangenen Tagen gab es zudem Andeutungen, dass die Israeli Defence Forces (IDF) bereit seien könnte, der Hamas auf dem Verhandlungsweg einen Ausweg anzubieten, wenn sie ihre Tunnel oder bestimmte Zellen aufgibt.
SPIEGEL: Wie wahrscheinlich ist das?
Krieg: Wir haben noch keine Hamas-Kämpfer gesehen, die aufgegeben haben. Aber je mehr Territorium die Israelis einnehmen, desto eher könnte die Hamas bereit sein, ihre unterirdischen Einrichtungen aufzugeben. Weil sie ansonsten keine Möglichkeit mehr sehen, zu überleben. Aber das kann sehr lange dauern.
SPIEGEL: Die IDF sind gestern in das al-Shifa Krankenhaus eingedrungen. Das israelische Außenministerium sagte, es sehe das im Einklang mit dem Völkerrecht. Wie beurteilen Sie diese Operation?
Krieg: Ich glaube, der Druck der USA auf Israel wächst, sich an das humanitäre Völkerrecht zu halten, was in den vergangenen Wochen nicht der Fall war. Also sind sie mit Spezialeinheiten der Infanterie hineingegangen und haben Einheit für Einheit durchkämmt.
SPIEGEL: Mit welchem Erfolg?
Krieg: Sie sagen, dass sie im Krankenhaus einige Waffen gefunden haben. Was mich nicht überraschen würde, denn es ist seit Jahren eine Taktik der Hamas, zivile Infrastruktur zu nutzen, um sich darin zu verstecken. Aber Israel hat sich in den vergangenen Tagen dem al-Shifa-Krankenhaus nicht besonders schnell genähert. Es hat ein paar Tage gedauert. Ich denke, dass die Hamas-Leute bereits vorher den Ort gewechselt haben.
SPIEGEL: In dieser Woche veröffentlichten die IDF ein Video, das einen Tunnel unter dem al-Rantisi Krankhaus zeigen soll, sowie Waffen und einen Raum, in dem Geiseln festgehalten worden sein sollen.
Krieg: Es gibt eine ganze Reihe von Ungereimtheiten in dem, was die IDF als Beweise vorgelegt haben, und eindeutig einige Desinformationen.
SPIEGEL: Welche Ungereimtheiten haben Sie gesehen?
Krieg: Zunächst einmal war der Schacht, der als Eingang zum Tunnel dargestellt wurde, in Wirklichkeit ein Wartungsschacht mit einem Lift darin. Es gab zudem eine Menge Schnitte im Video. Der Sprecher suggeriert, dass er sich am Eingang des Tunnels befindet. Und dann sehen wir ihn irgendwo im Keller. Aber wir wissen nicht, wie er vom Tunnel in den Keller kommt, oder ob der Tunnel tatsächlich in den Keller führt. Dann gab es Dienstplan, von dem behauptet wurde, das dort steht, wann welcher Terrorist Wache hielt.
SPIEGEL: Was stand da eigentlich?
Krieg: Es war einfach ein Dienstplan. Es könnte ein Plan für die Reinigungskräfte gewesen sein oder für Wartungsarbeiten. Es wurden keine Beweise vorgelegt, die auch nur halbwegs schlüssig waren. Die IDF und insbesondere die israelischen Armee- und Regierungssprecher arbeiten sehr konsequent mit Desinformationen. Ich würde sehr vorsichtig sein mit dem, was sie präsentieren.
SPIEGEL: Welche Rolle spielen die Geiseln bei der Planung der weiteren Operationen?
Krieg: Viel wird von den Geiseln abhängen. Aber Israel spricht da nicht mit einer Stimme. Es gibt keine wirkliche Strategie. Es gibt das Büro des Premierministers, das sich nicht mit dem Verteidigungsminister versteht. Es gibt die IDF, die mit dem Shin Bet in einigen Fragen nicht übereinstimmen. Und der Mossad ist sich wiederum mit dem Büro des Premierministers nicht einig. Ich habe die Geiselverhandlungen sehr genau verfolgt, und die Vertreter des Mossad, die in den vergangenen Wochen nach Doha gereist sind, haben immer gesagt, dass sie bereit sind, ein Deal abzuschließen. Aber das Büro des Premierministers, insbesondere Netanjahu selbst, und seine rechten Kabinettsminister, waren dagegen.
SPIEGEL: Derzeit ist aber wieder von einem nahenden Deal die Rede.
Krieg: Ja, ich glaube, die Haltung hat sich jetzt etwas geändert.
SPIEGEL: Wie schätzen Sie die Planungen der IDF für Operationen im Süden des Gazastreifens ein, wo nun rund zwei Millionen Menschen auf engsten Raum unter furchtbaren Bedingungen leben?
Krieg: Ich glaube nicht, dass sie dafür schon eine Strategie haben. Und im Moment weiß ich auch nicht, warum sie im Süden operieren sollten. Ich gehe davon aus, dass sich die meisten Geiseln im Norden befinden, und auch, dass sich die meisten Kämpfer der Hamas in Gaza-Stadt befinden, und die sind im Moment eingekesselt.
SPIEGEL: Wie viel Zeit haben die IDF?
Krieg: Die Zeit arbeitet gegen die IDF. Der Druck der Weltöffentlichkeit nimmt zu, Verbündete und Partner Israels erhöhen den Druck auf die Regierung, zu einem Ende zu kommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Operation in diesem Tempo über Weihnachten hinaus fortgesetzt wird. Wir haben bereits gesehen, dass Netanjahu mit der Biden-Regierung immer mehr Probleme hat. Und ich denke, auch in Europa, mit Ausnahme von Deutschland, ändert sich die Haltung gegenüber Israel. Man möchte nicht noch mehr zivile Opfer sehen.
Period | 17 Nov 2023 |
---|---|
Held at | Der Spiegel, Germany |
Keywords
- Israel
- Gaza
- Hamas