Tagesspiegel PlusIsraels Bodenoffensive und die Hamas-Tunnel :„So etwas hat es auf einem Schlachtfeld noch nicht gegeben“

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Herr Krieg, das Al-Shifa-Krankenhaus scheint derzeit im Zentrum der israelischen Militäroperation im Gazastreifen zu stehen. Warum misst die Armee der Klinik so große Bedeutung zu?
Seit vielen Jahren geht Israel davon aus, dass sich unter dem Gebäudekomplex die Kommandozentrale der Hamas befindet, von der aus die Terrororganisation ihr Vorgehen plant. Das konnte allerdings noch nicht bewiesen werden. Bisher sprechen die veröffentlichen Fotos und Videos eher dafür, dass sich dort Hamas-Kämpfer und Geiseln aufgehalten haben. Mehr lässt sich kaum schlussfolgern.

Israel veröffentlicht sowohl Fotos als auch Videos, die von den Terroristen genutzte Tunnel und Räume inklusive Waffen zeigen sollen.
Die Frage lautet aber: Haben die israelischen Soldaten die Waffen dort vorgefunden oder dort platziert? Das lässt sich nicht ohne weiteres sicher beantworten. Ich bin deshalb skeptisch, ob das Shifa-Krankenhaus wirklich eine so große Rolle als Schaltzentrale der Hamas spielt. Wir müssen uns immer klarmachen: Sowohl die Hamas als auch Israel sind Kriegsparteien, die nicht neutral sind.

Daraus folgt?
Beide sind von Interessen geleitet. Die Informationen, die sie verbreiten, sollen sie in einem guten Licht stehen lassen. Das heißt, darunter können sehr wohl auch Desinformationen sein, um von eigenen Fehlern abzulenken. Das gilt auch für die israelische Seite. Wir haben es mit einem Krieg zu tun, in dem es äußerst schwierig ist, zuverlässige Informationen zu erhalten.

Haben die Aussagen der Hamas, einer Terrororganisation, den gleichen Wert wie die der israelischen Regierung, die demokratische Prinzipien vertritt und der Öffentlichkeit Rechenschaft schuldet?
Bitte darauf kurz eingehen!

Was hat Israel bislang mit seiner Bodenoffensive erreicht?
Der einfachere Teil der Operation ist beendet: die Einkesselung von Gaza-Stadt. Weil es weniger Zivilisten und Häuser im Norden des Küstenstreifens gab, war es relativ leicht, mit Panzern und gepanzerten Fahrzeugen dorthin vorzudringen. Weitaus komplizierter ist es nun, Häuserblock für Häuserblock einzunehmen. Und noch etwas kommt erschwerend dazu.

Was meinen Sie?
Oberirdisch konnte Israel rasch Territorium gut machen. Aber unterirdisch ist das noch keineswegs der Fall. Dieser unterirdische Teil des Schlachtfelds ist nicht mit dem oberirdischen vergleichbar. Das Tunnelsystem ist über mehr als 17 Jahre entstanden. Dort gibt es Klimaanlagen, sanitäre Einrichtungen, alles ist mit Beton ausgebaut. Der Feind hat sich also sehr tief „eingegraben“ - eine derartige Situation hat es auf einem Schlachtfeld noch nicht gegeben. Das bedeutet auch: Wenn es oberirdisch eine zivile Infrastruktur gibt, kann es sehr wohl sein, dass sich darunter militärische Anlagen befinden. In einem derartigen Kontext Waffengewalt anzuwenden, ist sehr heikel.

Israels Streitkräfte planen offenbar, ihren Einsatz auf den Süden des Gazastreifens auszuweiten. Warum?
Es ist davon auszugehen, dass das Tunnelsystem sich von Norden bis nach Süden zieht. Viele Hamas-Kommandeure und -kämpfer sind vermutlich dorthin geflohen. Für Israel folgt daraus, auch in dieser Region gegen die militärischen Strukturen der Islamisten vorgehen zu müssen.

Hunderttausende Menschen sind aus dem Norden Gazas in den Süden geflohen. Birgt das nicht die Gefahr, dass es noch viel mehr zivile Opfer geben wird?
Es war zu beobachten, dass Israel in den vergangenen Tagen seine Luftangriffe deutlich zurückgefahren hat. Meiner Auffassung nach geht das auf den steigenden Druck der Amerikaner zurück, die Israel drängen, möglichst zivile Opfer zu vermeiden. Ich gehe deshalb davon aus, dass vor allem israelische Infanteristen zum Einsatz kommen. Das wird weniger Opfer fordern, als wenn man bombardiert. Denn Bodentruppen können zwischen Kombattanten und Zivilisten viel besser unterscheiden.

Ist es möglich, die Hamas so gründlich zu zerstören, dass von den Terroristen keine Gefahr mehr ausgehen kann?
Das ist so gut wie unmöglich.

Warum?
Die Hamas ist sowohl eine Terrororganisation als auch eine Aufstandsbewegung, eine soziopolitische Organisation. Eine solche lässt sich mit rein militärischen Mitteln nicht besiegen. Es braucht eine politische Lösung. Gerade die Regierungen unter Benjamin Netanjahu haben es über Jahre versäumt, eine Strategie zu entwickeln. Man kann Hamas zermürben. Doch die Idee dahinter lässt sich mit Waffengewalt letztendlich wohl nicht besiegen.

Period22 Nov 2023
Held atTagesspiegel, Germany

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  • Israel
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